Revolution und Emigration
In Lenins Imperialismustheorie kann Lewin also kaum
etwas Innovatives erkennen. Dagegen beginnt er seine Bewertung der zweiten
Schrift mit dem Satz: „Origineller ist Lenin als Denker einer neuen
Wirtschaftsordnung.“ Allerdings wollte er dies wohl kaum wörtlich verstanden
wissen, denn aus dem folgenden Satz spricht deutliche Ironie: Lenin bemühe
sich, mit den Autoritäten Marx und Engels übereinzustimmen, was ihm nur mit
Mühe gelinge. Dieses kaum verdeckte Infragestellen ist der Auftakt zur offenen
Kritik, die Lewin in der zehnten und letzten Spalte des Zeitungsartikels aufmacht.
Damit zielt er auf den Widerspruch zwischen dem Theoretiker und dem Politiker:
als Theoretiker hält Lenin den marxistischen Ansatz nicht durch; denn sein revolutionäres
Temperament zieht sein Denken fort, weit jenseits der Grenzen der strengen
marxistischen Logik.
So gerät er in Widerspruch zu Marx und zu sich selbst. An
Marx‘ Verständnis vom unausweichlichen Ende des Kapitalismus, an dessen
Zusammen¬bruchstheorie, knüpft Lenin die Feststellung, dass der Kommunismus aus
dem Kapitalismus hervorgeht, sich historisch daraus entwickelt, er „das
Resultat der Wirkungen einer gesellschaftlichen Kraft ist, die der Kapitalismus
erzeugt hat.“ Soweit der Theoretiker Lenin; den Politiker Lenin aber zwingt
sein revolutionäres Temperament zu der Behauptung: es ist „durchaus möglich,
unverzüglich, von heute auf morgen“ zum Kommunismus überzugehen. Der Denker
verliert, der Revolutionär gewinnt.